Rede zum Totensonntag 2010

Gespeichert von admin am Fr., 04.03.2016 - 01:37

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Frau Bettina Koop machte vor etwa 2 Monaten den Vorschlag, dass wir an diesem Totensonntag doch das Leben mit dem Bild eines Schiffes thematisieren sollten; denn als See- und Hafenstadt wäre das doch wohl für uns heute sehr angebracht.

 

Wir haben den Vorschlag gerne aufgenommen, denn ein Schiff eignet sich besonders gut dafür, speziell unsere Thematik am Totensonntag zu erhellen.

Wie können wir das generelle Thema des Totensonntags formulieren?

Ich schlage vor, dass wir den Totensonntag unter das Generalthema „Übergang“ stellen. Dieses Thema möchte ich mit Ihnen an Hand von zwei Schiffsbeispielen besprechen:

 

1.

Das erste Schiff, welches uns einen entscheidenden Lebensübergang – und damit Totensonntagsthema - zeigt, finden wir in der Menschheitsgeschichte unter dem Begriff „Arche“.

Ich möchte Ihnen nicht den biblischen Bericht vortragen, den kennen Sie aus dem Konfirmandenunterricht, sondern ich zitiere den Flutbericht aus dem viel älteren Gilgamesch-Epos:

Mann von Suruppak, Sohn Ubara-Tutus! Reiß nieder das Haus und erbaue ein Schiff. Lasse ab vom Reichtum und suche stattdessen nach dem, das atmet. Die Habe sei dir zuwider, erhalte stattdessen das, was atmet, am Leben. Hol den Samen all dessen, das atmet, herauf in das Innere des Schiffes. Die Maße des Schiffs, welches du erbauen wirst, seien aufeinander abgestimmt: Genau gleich soll sein seine Breite und Länge. Es selbst versieh mit einem schützenden Dach!“

Man ist sich unter den Forschern nicht ganz einig, wann die Gilgamesch-Geschichten, oder das Gilgamesch-Epos erstmalig komponiert wurden. Nachweisbar ist, dass es über 4000 Jahre alt ist und damals weit verbreitet war.

Der Pentateuch (die fünf Bücher Moses) wurde vor etwa 2500 Jahren von den jüdischen Rabbis fertig gestellt und bilden den ersten Hauptteil des Tanach (Altes Testament). Die Sintflutgeschichte der Bibel ist also 1500 Jahre jünger und von den alten Berichten (es gab noch verschiedene ähnlich alte andere Sintflutberichte) abgeschrieben und auch verändert worden.

Diese ältere und damit originalere Fassung des Sintflutberichtes im Gilgamesch-Epos ist noch viel deutlicher auf unsere Situation als Überlebende nach dem Tod unseres verstorbenen Menschen zugeschnitten, als der biblische Sintflutbericht.

Wollen wir kurz hineinschauen. Der Bericht beginnt mit der Aufforderung:

Reiß nieder das Haus und erbaue ein Schiff. Lasse ab vom Reichtum und suche stattdessen nach dem, das atmet. Die Habe sei dir zuwider, erhalte stattdessen das, was atmet, am Leben.“

Als meine Frau gestorben ist, waren genau das meine ersten Gefühle und Gedanken. Ich wollte mein Haus verkaufen und hatte auch schon einen Makler bestellt. Ich wollte meine Bücher, mein Werkzeug und alles, was sich angesammelt hatte in den Müll bringen. Mir war mein relativ neues Auto zuwider.

Ich wollte weg von hier. Aber wie? Wenn ich ein Schiff gehabt hätte, wäre ich in den Pazifik gefahren und hätte mich dort verkrochen.

In der Trauergruppe, die seither hier im Hause erfolgreich stattfindet, erzählen es die Freunde (Wenn man gemeinsam trauert, wird der andere einem zum Freund) immer wieder, dass ihnen alle Habe und aller Besitz zuwider ist und sie nur ganz tiefe und große Sehnsucht nach dem verstorbenen Menschen haben.

Dabei geschieht dann etwas Eigenartiges:

Vor etwa 20 Jahren habe ich ein Heft - Hilfe für Trauernde - geschrieben und davon 2500 Exemplare drucken lassen. Es ist ein wunderbares Heft geworden. Ich habe dieses Heft mit sehr wertvollen Hinweisen kostenlos an die trauernden Hinterbliebenen in und um Bremerhaven verteilt. In vielen Wohnzimmerschränken, in der untersten Schublade, ist dieses Heft sicherlich noch heute zu finden.

- Und ich bin sicher, niemand hat es gelesen.-

Woher kommt diese Merkwürdigkeit? Ganz einfach, unser Text erklärt es uns. Dort heißt es: Lasse ab vom Haus, Reichtum und aller Habe und suche stattdessen nach dem, das atmet.

Mein wunderschönes Heft der Hilfe für Hinterbliebene atmet nicht. Das kann auch das schönste Heft nicht.

Und mir persönlich erklärt sich diese Merkwürdigkeit auch aus dem eigenen Erleben. Nach dem Tode meiner geliebten Frau konnte ich etwa 6 Monate nicht mehr lesen. Dabei war und bin ich eine Leseratte. Wir haben einen Hund. Der bettelt immer und will raus, will laufen. Mit ihm bin ich gelaufen, aber Lesen konnte ich nicht.

Trauernde Hinterbliebene benötigen keinen Lesestoff, sonder etwas, was atmet. Ein Kanarienvogel, eine Katze oder ein Hund sind in dieser Trauersituation viel hilfreicher und wertvoller, als mein kluger Ratgeber.

Das Gilgamesch-Epos beschränkt sich nicht darauf, was wir loslassen und verlassen sollen, nämlich Haus, Reichtum und unsere Habe, sondern es beauftragt uns inmitten der Krise an die Zukunft zu denken.

 

Ein Beispiel:

Die Praxis unseres Redens ist bis heute unverändert geblieben: Wenn der Arzt sagt, es gibt keine Hoffnung mehr, dann heißt das, der Patient wird bald sterben. Keine Hoffnung haben ist der sichere Tod. Leben und Hoffnung sind also austauschbare Begriffe. Deshalb gilt der erste Satz meiner gottlosen Ethik, also Moral, dem Erhalt des Lebens.

Albert Schweitzers großer Durchbruch erfolgte 1917 auf dem Weg nach Lambarene auf dem Ogowe-Fluß. Plötzlich und zufällig überkam ihn die Erleuchtung:

Ich will leben inmitten von Leben, das Leben will!“

Was ist Leben? Leben ist nicht Bücher lesen, Religionen befolgen, Arbeiten erfüllen, usw. sondern zunächst einfach nur Essen und Trinken.

Essen Trinken, Bewegung bis mindestens einmal pro Tag der Schweiß kommt, ausreichend schlafen und sich Zeit nehmen für die eigene Besinnung, sind ganz praktische und immer vergessene Hilfen, um das, was atmet, am Leben zu erhalten. Das sind die Fundamente des Lebens.

 

Bemerkung:

Mir ist bisher kein Kochbuch bekannt, welches besonders appetitanregend ist und dessen Rezepte mühelos nachvollzogen werden können, und welches gerade deshalb – appetitanregend und mühelos muss es sein - besonders für trauernde Hinterbliebene gebraucht wird.

Überall bekommt man nur in der Trauersituation tiefsinnige Texte auf Karten und in Briefen zugeschickt. Aber all dieser Papierkram „atmet nicht“.

Die Habe sei dir zuwider, erhalte stattdessen das, was atmet, am Leben. Hol den Samen all dessen, das atmet, herauf in das Innere des Schiffes.

Dieser Mann von Suruppak, der Sohn des Ubara-Tutus bekommt eine Lektion gelehrt, die sich leider bis heute nicht flächendeckend durchgesetzt hat. Alles, was er hat, Haus, Reichtum, alle seine Habe, „sei ihm zuwider“.

Nur eines ist entscheidend wichtig, das, was ich vor zwei Jahren in meinen 10 Sätzen zur Moral eines lesenden Arbeiters so formuliert habe:

Leben muss immer Vorrang haben!

Hole das, was lebt, was leben will, was auch nur ein Keim des Lebens ist, in das Innere des Schiffes, dort wo es ganz sicher ist. Das ist dein Schatz. Das ist deine Zukunft. Bedenke: Leben ist deine Zukunft.

Ich selbst habe nach dem Verlust meiner Frau mein Leben umgekrempelt. Ich genieße den täglichen zweimaligen Weg mit meinem Hund. Ich genieße es, mit mir alleine meditativ eine Stunde täglich zu verbringen. Früher konnte ich das alles nicht. Diesen Entwicklungsprozess habe ich nicht abgeschlossen.

Noch einmal Albert Schweitzer:

Mich interessiert alleine die Zukunft, denn in der will ich leben!“

Genau das ist möglich, weil ja der Samen des Lebens in seiner vielfältigen Form und Ausgestaltung in der Katastrophe geborgen in mitten der Arche auf bessere Zeiten warten. Dieser Samen ist in seiner Summe das Versprechen einer hellen und besseren Zukunft. In seinen Einzelerscheinungen ist dieser Same der Sinn unseres Lebens in der Zukunft. Menschen, die bis zu ihrem eigenen Tod ein sinnvolles Leben geführt haben, hatten immer eine selbstgesetzte Aufgabe und/oder einen selbstgesetzten Sinn zu erfüllen.

Dieses uralte Gilgamesch-Epos zeigt uns, wie wir uns in der Katastrophe helfen können. Auf zwei wesentliche Sachverhalte kommt es an:

- Erstens müssen wir das, was noch lebt, unbedingt am Leben erhalten, und

- zweitens müssen wir den Samen der Zukunft schützen, hegen und pflegen.

 

2.

Genau diese beiden Prinzipien finden wir wieder, wenn wir das Auswandererhaus besuchen.

Über Bremerhaven wanderten zwischen 1830 und 1974 mehr als 7 Millionen Menschen nach Übersee aus. Das, was in dem Gilgamesch-Epos der Mann aus Suruppak in der großen Flut erlebte, wird uns in moderner Zeit an den Auswanderern deutlich gemacht.

Die überwiegende Anzahl der Auswanderer wanderten mit dem Schiff unter teilweise schlimmen Bedingungen aus. Das Auswandererhaus gibt einen tollen Eindruck auch durch die schwankenden Schiffsdecks in das Abenteuer der Auswanderung.

Suruppak, der Sohn des Ubara-Tutus wanderte aus einer vertrauten und gewohnten Welt in eine völlig neue und andere Welt. Bremerhaven war die letzte Station der alten und bekannten Welt. Die Berichte sind deckungsgleich.

Häuser und Ländereien waren verkauft, wenn was zu verkaufen war, und mit einem Koffer und viel hoffnungsvollen Erwartungen ging es einer völlig ungewissen Zukunft entgegen,

Jetzt kam es darauf an, dass alles was lebt, erhalten blieb. Wenn wir uns in dem Auswandererhaus informieren, werden wir schnell merken, dass genau dieser Punkt der entscheidende Punkt war, weshalb Bremerhaven der führende Auswandererhafen Europas in die neue Welt wurde. Bremerhaven bot den besten Service und damit die beste Überlebensgarantie für die Überfahrt in die neue Welt.

Die Auswanderer hatten alles aufgegeben, wesentliche Teile ihrer Familien, ihren Freundeskreis, ihre Heimat und alle diese Vertrautheiten, die unser Leben schön machen können. Sie hatten aber auch alle Gesetze und Verordnungen, alles was man tut und lässt mit aufgegeben; denn das alles wollten und mussten sie neu lernen in der anderen Welt. Dort galten andere Regeln.

Und wir rufen uns in Erinnerung, es gab weder Telefon, noch Handy, es gab keine Flugzeuge und die Post brauchte unendlich lange.

Aber sie hatten ihr Können, ihren Fleiß, ihre Energie und ihren Durchsetzungswillen ganz tief in sich selbst geborgen. Das war der Samen ihrer Zukunft. Sie hatten das, was unter allen Umständen neue Triebe und Schösslinge entwickelt, also alles das, was atmet, sorgfältig in sich selbst verpackt. Wenn man ihnen auch den letzten Koffer klaute, die Keimlinge des neuen Lebens und der besseren und erfolgreichen Zukunft konnte man ihnen nicht wegstehlen.

Sie taten genau das, was der Mann aus Suruppak auch tat: Hol den Samen all dessen, das atmet, herauf in das Innere des Schiffes.

Das bekamen sie auch durch die Einwanderungsformalitäten, Einwanderungsbehörden und Einwanderungseinrichtungen auf Ellis Island in New York problemlos hindurch. Das konnte ihnen kein Einwanderungsbeamter beschlagnahmen. Das war verborgen in ihnen.

Damit bauten sie die neue Welt auf, genau wie der Mann aus Suruppak den mitgebrachten Samen aussäte und eine neue Welt ihren Anfang nahm.

 

3.

Nun heißt unser Thema aber:

Das Schiff - Modell unseres Lebens.

In dieser Themenstellung geht es nicht um die Besatzung, Passagiere oder die Fracht eines Schiffes, sondern um das Schiff selbst.

Der Text in Ihrer Einladung:

Das Schiff, das im Hafen liegt, ist sicher. Aber dafür sind Schiffe nicht gebaut!

hat mir den Weg gewiesen, von den sachlichen Bildern eines Schiffes auf die ganz tiefen Lebensbedeutungen hinzuweisen.

Unser Lebensschiff ist so robust gebaut, dass es in allen Stürmen standhält. Im Gilgamesch-Epos wird der Mann aus Suruppak angewiesen: „Es selbst versieh mit einem schützenden Dach!“

Was heißt das?

Könnte das bedeuten, dass wir unser Lebensschiff schon in der Bauphase so bauen, dass es ein schützendes Dach hat, oder modern gesprochen: Dass das Deck wasserdicht ist?

Immer wieder erlebe ich in meinen Trauergesprächen die Fassungslosigkeit der Hinterbliebenen, dass gerade ihr verstorbener Mensch nun so plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Und manchmal bin ich sogar über mich selbst erstaunt, dass mich wieder einmal eine „böse Überraschung“ ereilte. Böse Überraschungen kommen „von oben“, so steht es im Tanach, also im alten Testament, also in der Bibel.

So heißt es im Propheten Amos 3,6: Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der HERR nicht tut?“

Unglück kommt also von Gott. Sie können es selbst nachlesen.

Wenn ich mal wieder böse überrascht bin, dann merke ich, dass mein schützendes Dach wieder einmal nachgebessert werden muss, oder dass das Deck nachkalfatert werden muss.

(Als Schiffszimmer habe ich noch gelernt das Werg zwischen die Planken des Decks mit einen Kalfatereisen einzutreiben, so dass kein Wasser mehr hindurch konnte.)

Dieses schützende Dach ist eine Einstellungsfrage, also eine Gesinnungsfrage, die in meinen 10 Sätzen eines lesenden Arbeiters in Satz 5 so heißt:

Ich mache aus allem das Beste!

Die alten Rabbis haben das so formuliert:

Du kannst nicht verhindern, dass die Vögel über deinen Kopf fliegen, aber du kannst verhindern, dass sie auf deinem Kopf ein Nest bauen.

Am Beispiel der Arche würde das heißen: Du kannst nicht verhindern, dass das Wasser auch von oben in dein Schiff eindringen will. Aber du kannst ein schützendes Dach bauen.

Am Beispiel der Auswandererschiffe würde das heißen: Du kannst nicht verhindern, dass das Wasser über das Deck spült, aber du kannst das Deck wasserdicht machen.

Am Beispiel unseres Lebens würde das heißen: Du kannst nicht verhindern, dass Unglück auch dich erreicht. Aber du kannst verhindern, dass du im Unglück versinkst.

Schiffe sind dazu gebaut, dass sie die Abenteuer der Seefahrt bestehen können und Menschen – also Sie und ich - sind so konstruiert, dass sie die Abenteuer des Lebens in allen möglichen Formen und Arten siegreich bestehen können.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.